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11.04.2011

"Die Last der Selektion trägt die Frau"

Nachdem die Debatte bereits zweimal verschoben wurde, wollen die Abgeordneten des Deutschen Bundestags die drei interfraktionellen Gesetzentwürfe zur Präimplantationsdiagnostik (PID) an diesem Donnerstag nun in Erster Lesung beraten. Grund genug, mit der „Instrumentalisierung der Verletzlichkeit der Frau“ eine bislang kaum beachtete Dimension auszuleuchten.
Von Professor Christoph von Ritter

Was die Gesellschaft verdrängt: Fortschritt der Wissenschaft und Profitinteresse der Gesundheitsindustrie drängen in der Frage „PID“ die Frau in schwere Gewissensnöte.

Zunächst ist eine Begriffsbestimmung notwendig: Die Bezeichnung „Präimplantations-Diagnostik“ ist irreführend. Würde diese Vorstellung von Diagnostik auf die gesamte Medizin übertragen, würde nicht mehr die Krankheit, sondern der Kranke eliminiert. Tatsächlich aber stellt die Diagnostik in der Medizin die notwendige Voraussetzung für eine spezifische Therapie dar, die Leben erhalten und Leiden mindern soll. Bei der „PID“ dagegen führt die Diagnostik zur Selektion, zur Tötung des erkrankten Embryos. Vor diesem Hintergrund sollte eigentlich die Bezeichnung „Präimplantations-Selektion“ (PIS)verwandt werden. Im folgenden Text wird, um nicht einen neuen Begriff einführen zu müssen, die sogenannte PID in Anführungszeichen gesetzt – „PID“.

Es gibt in der öffentlichen Diskussion wenig Zweifel, dass die „PID“ das Lebensrecht des Embryos verletzt. Diese Verletzung wird aber von Befürwortern einer Freigabe der „PID“ mit dem Argument in Kauf genommen, dass die „PID“ geeignet ist, die Sorge von Eltern um die Gesundheit ihrer Kinder und die Angst vor der Geburt eines Kind mit einem Erbdefekt zu lindern. Es wird ins Feld geführt, dass durch die „PID“ eine sogenannte Schwangerschaft auf Probe verhindert werden könne. Das Argument in diesem Zusammenhang lautet: Eine Selektion in der Petrischale sei schonender als eine Abtreibung aus dem Mutterschoß. Befürworter der Freigabe der „PID“ argumentieren weiterhin, dass die Autonomie der Frau ein Recht auf dieses Verfahren begründet und das bisherige Verbot der „PID“ eine Rechtslücke im deutschen Rechtssystem darstelle, die es zu schließen gelte. Es wird schließlich die Überzeugung geäußert, dass es bei der anstehenden Entscheidung im Bundestag zur „PID“ ganz einfach um die Frage gehe, ob man die Rechte der Frau oder die eines Embryos in der Petrischale höher schätze.

Vor diesem Hintergrund gilt es zu prüfen, ob die „PID“ nicht zusätzlich zur Einschränkung des Lebensrechts des Embryos auch die Interessen von Eltern mit einer Erberkrankung verletzt, ob die ausgeprägte Sorge von Eltern mit einer Erberkrankung um das Wohl ihrer Kinder in der Debatte um eine Freigabe der „PID“ instrumentalisiert wird. Es stellt sich die Frage, ob mit der „PID“ diesen Eltern statt segensreichen Erleichterungen und Privilegien ein Verfahren angedient wird, das mit einem hohen Nebenwirkungsprofil und einer niedrigen Erfolgsrate belastet ist und moralisch höchst zweifelhafte Entscheidungen abverlangt. Es gilt schließlich zu untersuchen, wer ein Interesse an einer solchen Instrumentalisierung der Verletzlichkeit der Frau haben könnte?

Ärzte sonnen sich gerne im Glanz neugeborener, gesunder Kinder. Die Laienpresse lobt den Einsatz für kinderlose Paare und gegen Erbkrankheiten. Dem Erstbeschreiber der In-vitro-Fertilisation (IVF), Robert Edwards, wurde 2010 der Nobelpreis für Medizin zuerkannt. Die „Produktion“ von Rettungsgeschwister, die zur Therapie eines erkrankten Geschwisterkindes beitragen soll, wird als großartiger Einsatz der Ärzte gewertet. Nur selten nimmt die Öffentlichkeit die Leiden der beteiligten Personen, der Mütter, der Väter, der Geschwister und der durch „PID“ auf die Welt gebrachten Kinder wahr. Diese Belastungen aber können nicht nur unmittelbar, sondern auf lange Zeit erheblich sein.

Frauen, denen eine „PID“ angeboten wird, sind in der Regel gebärfähig. Sie leiden nicht an Kinderlosigkeit. Dennoch müssen sie sich einer IVF unterziehen. Die IVF ist die Voraussetzung, um einen Embryo in der Petrischale züchten und ihn dann einem Gentest unterziehen zu können. Im Rahmen der IVF müssen die Frauen mehrere Zyklen einer Hormontherapie durchlaufen, bis es zu einer Schwangerschaft kommt. Nur im besten Fall führt jeder dritte forcierte Hormon-Zyklus zu einer Schwangerschaft; im fortgeschrittenen Alter sinkt die Schwangerschaftsrate durch IVF dramatisch unter zehn Prozent. Da natürlich auch während der Schwangerschaft Risiken für den Fetus bestehen, reduziert sich die Erfolgsrate der IVF bis zur Geburt eines Kindes weiter. Die spärliche Erfolgsrate der IVF steht in einem ungünstigen Verhältnis zu dem hohen Nebenwirkungsprofil. Unter der Hormontherapie kommt es im besten Fall „nur“ zu Erbrechen, Übelkeit, Blutdruckschwankungen. Nicht selten treten Persönlichkeitsveränderungen auf, die das soziale Umfeld, insbesondere aber die Partnerschaft negativ beeinflussen. Durch den Verlust des Partners, verursacht durch diese Persönlichkeitsveränderungen und andere Strapazen der IVF, kann dann bei einer letztendlich doch gelungenen, glücklichen Geburt des lang ersehnten Kindes das familiäre Umfeld fehlen, das nötig wäre, um diesem Kind ein glückliches Leben zu bescheren. Im ungünstigsten Fall kann eine Frau im Rahmen einer „PID“ am „Ovariellen Hyperstimulationssyndrom“, das mit einer Mortalität von bis zu sechs Prozent belastet ist, versterben.

Die Studienlage zum Wohlbefinden von Kindern und Familien nach einer „PID“ ist spärlich. Was die psychischen Folgen einer „PID“ für Eltern, Geschwister und „PID“-Kinder angeht, gibt es keine Untersuchungen. Dieses Fehlen von Langzeitdaten für ein Verfahren, das mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeprägt in die Entwicklung von Kindern und ihrem Umfeld eingreift, ist in der medizinischen Welt einmalig. Vor einer breiten Anwendung eines derartig eingreifenden Verfahrens wären dringend Studien notwendig, welche die medizinischen und psychischen Folgen der „PID“ für die mit Hilfe der „PID“ auf die Welt gekommenen Kinder untersucht. Zu untersuchen wäre, wie sich die Bindung und Solidarität des „PID“-Kindes gegenüber beispielsweise behinderten Eltern entwickelt. Dem Risiko, dass ein solches Kind diesen seine Unterstützung versagt, wollte ein taubstummes Paar in England vorbeugen: Es verlangte eine „PID“ mit dem Ziel, dass ihr Wunschkind auch taubstumm sei. Insgesamt muss festgestellt werden, dass wegen fehlender Daten zu den Langzeitfolgen einer „PID“ Eltern und Kinder durch diese Methode einem unkontrollierten Feldversuch ausgesetzt werden.

Die oben ausgeführten Überlegungen zu niedriger Erfolgsrate, Risiken und Unsicherheiten im Zusammenhang mit der „PID“ sollte eigentlich das Interesse an diesem Verfahren schnell dahinschmelzen lassen. Sollte nach sorgfältiger Aufklärung durch den Arzt immer noch ein Wunsch nach „PID“ bestehen, muss den Eltern deutlich gemacht werden, dass sie durch die „PID“ diejenigen ihrer Embryonen der Selektion und Tötung freigeben, deren einziges Defizit darin besteht, ein ähnliches Erbgut wie die Eltern selbst und ein eventuell schon geborenes behindertes Geschwisterkind zu haben. Die Verantwortung für diese Selektion trägt die Frau alleine, der „behandelnde“ Arzt lehnt die Verantwortung unter anderem aus haftungsrechtlichen Gründen explizit ab. So führt die „PID“ im Erfolgsfall immer zum Ruhm des Arztes. Die Lasten der Selektion müssen die Eltern, ganz besonders aber die Mütter, nicht selten ein Leben lang alleine tragen.

Wie verhält es sich schließlich mit der „Schwangerschaft auf Probe“, die bedrohlich als einzige Alternative zur „PID“ ins Feld geführt wird? Selbst Ärztepräsident Professor Jörg-Dietrich Hoppe und der Autor des Memorandums der Deutschen Ärztekammer, Professor Hermann Hepp, ziehen solche Vergleiche und lassen dabei ganz bewusst außer Acht, dass eine embryopathische Indikation der Abtreibung nicht durch den § 218 gedeckt ist und deshalb als Tötungsdelikt geahndet werden muss. Dreist wird dann noch argumentiert, dass dieses Tötungsdelikt im Rahmen einer Gleichbehandlung ein Verbot der „PID“ ausschließe. Als besonders perfider Aspekt in dieser Argumentationskette kann gewertet werden, dass eine „PID“ ja keinesfalls eine Abtreibung ausschließt. Im Gegenteil: Zur Sicherung der korrekten Selektion im Rahmen der „PID“ ist eine Pränataldiagnostik Teil des Verfahrens und eine Abtreibung bei ungünstigem Ergebnis keineswegs ausgeschlossen. Zusätzlich müssen bei Mehrlingsschwangerschaften euphemistisch als „Reduktion“ bezeichnete Spätabtreibungen vorgenommen werden.

Sind Verfechter einer Freigabe der „PID“ also selbstlose Streiter für die Autonomie und die Rechte der Frau und darf die Verteidigung der Autonomie der Frau als Argument für die Beschneidung der Rechte des Embryos bei einer Freigabe der „PID“ ins Feld geführt werden? Wohl kaum: Eher sind die Befürworter der „PID“ Opfer einer geschickten Lobby-Arbeit der IVF-Industrie und nicht nur sie, sondern auch die Frauen werden für deren Interessen instrumentalisiert. Nicht auszuschließen ist, dass im schlimmsten Falle hinter dem Kampf für eine Freigabe der „PID“ volkswirtschaftliches Kalkül steckt, das mit dem Ziel einer „Volksgesundheit“ Kosten für die Betreuung von Behinderten für die Gesellschaft sparen will.

Weltweit werden mit Kinderlosigkeit und dem Leid von Eltern, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen, riesige Summen Geld verdient. Zusätzlich zur Reproduktionsmedizin sieht die IVF-Industrie einen lukrativen Markt bei der Verwendung „überzähliger“ Embryonen für Forschungs- oder sogar Therapiezwecke. Bisher stellt das Embryonenschutz-Gesetz in Deutschland immer noch einen wirksamen Schutz nicht nur der Embryonen, sondern auch der Frauen vor einer Ausbeutung durch die IVF-Industrie dar. Im Bereich der Bioethik hat das Embryonenschutzgesetz (ESchG) weltweit Vorbildcharakter. Im § 1 des ESchG ist die biologisch-wissenschaftliche Tatsache des Beginns des menschlichen Lebens mit der Zeugung, also der Verschmelzung von Samen- und Eizelle, festgeschrieben. Mit teilweise äußerst fragwürdigen Argumenten wird von Vertretern der IVF-Industrie der Embryonenschutz bekämpft, um so Zugriff auf die Embryonen zu gewinnen. Die im Rahmen der „PID“ Debatte angeführte Sorge um Eltern mit Erbdefekten wird so zum materiellen Vorteil der IVF-Industrie genutzt.

Auch in der gesellschaftlichen Debatte wird das Leid von Eltern mit behinderten Kindern als Argument für die „PID“ verwandt. Das Verbot der „PID“ wird als Benachteiligung der Frau dargestellt. Diese scheinbar frauenfreundliche Argumentation verkennt die Ausbeutung der Ängste und Abhängigkeiten der Frauen. Die Erfahrung in Ländern, in denen die „PID“ zugelassen ist, zeigt, dass der Druck zur Durchführung der „PID“ nicht selten von den Männern ausgeht, die lediglich das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit oder gar nur das Aussehen oder Geschlecht der Nachkommenschaft im Sinn haben und dabei blind für die Lasten und Risiken sind, denen die werdende Mutter im Verlauf einer „PID“ ausgesetzt ist. Rücksichtslos wird von Befürwortern einer begrenzten Zulassung der „PID“ übergangen, dass die betroffene Frau erst ihre Not vor einem Gremium ausbreiten müsste. Vor einer Expertenrunde müsste sie darlegen, dass ihr Erbleiden schwerwiegend genug ist, um eine „PID“ zu rechtfertigen. Würde ihr Antrag auf „PID“ abgelehnt, wäre ihr damit bescheinigt, dass das Leid in Zusammenhang mit ihrer Behinderung als unerheblich zu betrachten ist. Im Falle einer Zulassung der PID müssten die Eltern dagegen erfahren, dass ihre Behinderung sie als lebensunwert stigmatisiert. Ebenso lebensunwert wie die Embryos, die im Verlauf der „PID“ getötet werden würden. Anstatt Frauen vor einem solchen unmenschlichen und zynischen Verfahren zu schützen, versuchen einflussreiche Institutionen wie die Leopoldina und die deutsche Ärzteschaft die „PID“ als Privileg für die Frau umzudeuten. Was könnte der Grund für eine solche Fehldeutung sein?

Mit Zulassung der „PID“ kann sich die Gesellschaft Zug um Zug aus der kostspieligen Versorgung der Behinderten zurückziehen und auf das volkswirtschaftlich erstrebenswerte Ziel der „Volksgesundheit“ hinarbeiten. Tatsächlich hat das Europaparlament im vergangenen Jahr eine Entschließung zur „Eradikation von Genkrankheiten“ gefasst, die nur durch den Einsatz der Europäischen Kommission gestoppt werden konnte. Frauen, die sich einer „PID“ unterziehen, übernehmen die Verantwortung dafür, dass behinderte Kinder nicht mehr zur Welt kommen. Frauen aber, die sich einem solchen Verfahren entziehen, werden zukünftig für die Behinderung ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. Sie werden sich fragen lassen müssen, wie sie es verantworten konnten, Kindern das ganze Leid einer Behinderung zuzumuten. Der Gesellschaft wäre es mit einer Zulassung der „PID“ möglich, die finanziellen Lasten für die Versorgung von Behinderten auf die Eltern abzuwälzen und gleichzeitig die moralische Verantwortung für eine „Eradikation“ von genetischen Leiden auf die betroffenen Eltern zu übertragen. Die mittelalterliche Vorstellung, dass Behinderung der Kinder durch ihre Eltern verschuldet sei, wäre das Ende der Solidargemeinschaft.

Zusammengenommen sind zusätzlich zu schwerwiegenden ethischen Bedenken bezüglich einer Selektion von Embryos, in der Diskussion um eine begrenzte Zulassung der „PID“ die Verletzlichkeit von Eltern, speziell der Frauen, und die Auswirkungen der „PID“ auf Familie und Gesellschaft zu berücksichtigen. Schutz der Frauen vor Ausbeutung und Instrumentalisierung durch Ärzte, IVF-Industrie und Gesellschaft gebietet ein uneingeschränktes Verbot der „PID“. Wer für eine Zulassung der „PID“ plädiert, stellt – bewusst oder unbewusst – die materiellen Interessen der IVF-Industrie und der Volkswirtschaft über den berechtigten Anspruch des Embryos und dessen Eltern auf Schutz durch die Gesellschaft.

Der Autor ist Ärztlicher Direktor der RoMed Klinik Prien am Chiemsee, außerordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Berater des päpstlichen Gesundheitsrates.